Personal Growth

Danke an Piko, Moritz und skalabyrinth fürs Testlesen und für wundervolles Feedback zu dieser Kurzgeschichte!

Die Veränderung war anfangs kaum wahrnehmbar. Der Stuhl, auf dem Lina saß, wurde nur ein wenig unbequemer und ihre Füße drückten mehr auf den Boden. Sie sah sich im Raum um. Die Forschenden hinter der Glasscheibe betrachteten aufmerksam ihre Bildschirme und redeten leise miteinander.

Lina streckte ihre Beine aus. Wirklich, sehr unbequem dieser Stuhl – und auch der Platz zwischen Stuhl und dem Tisch, an dem sie saß, kam ihr sehr eng vor. Das war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Doch als sie sich wieder den Forschenden zuwandte, bemerkte sie etwas Merkwürdiges: Sie musste zu ihnen herabblicken, als wäre Lina größer als sonst. Ja, ihr Körper war eindeutig größer geworden. Lina saugte die Luft durch die Zähne. “Äh, ist das normal?”, fragte sie.

Die Forschenden antworteten nicht, aber gestikulierten aufgeregt in ihre Richtung. Eher ein schlechtes Zeichen. Zwei von ihnen sprangen hektisch auf und liefen in den Gang hinaus. Lina wuchs währenddessen weiter und zog den Kopf ein, um nicht gegen die Decke zu stoßen. Sie musste hier dringend raus, bevor sie nicht mehr in den Raum passte! Sie sprang auf und zwängte sich durch die Tür in den Flur, der ihr nun eher wie ein Lüftungsschacht vorkam. Dankbar folgte sie den grünen Notausgangs-Schildern. Menschen in Laborkitteln, die im Gebäude unterwegs waren, starrten sie mit offenen Mündern an, als sie an ihnen vorbeikam und wichen in Seitenzimmer aus. Sie riefen Dinge durcheinander, denen Lina gerade keine Aufmerksamkeit schenken konnte.

Auf allen Vieren krabbelte sie in die Eingangshalle. Sie betastete eine Flügeltür, die nach draußen führte. Ihren Kopf würde sie wohl noch durchbekommen, aber der Rest ihres Körpers war inzwischen zu groß. Hektisch sah sie sich in der Halle um und suchte nach anderen Ausgängen. Zunehmend wurde auch die Halle zu klein, sie musste sich zusammenkauern und ihr Rücken drückte schon gegen die gläserne Überdachung der Halle. Gläsern! Lina hob einen Tisch, der in der Lobby stand, mit Daumen und Zeigefinger an. Sie sah sich kurz in der leeren Halle um. “Sorry”, flüsterte sie, kniff die Augen zusammen, zertrümmerte eine der Scheiben und stieg vorsichtig ins Freie. Endlich!

Sie blickte auf den Gebäudekomplex herab. Menschen liefen auf die Straße und gestikulierten aufgeregt in ihre Richtung. Sie gingen ihr mittlerweile nur noch bis zum Knöchel. Lina beugte sich zu ihnen herab. “Helft mir!”, rief sie verzweifelt.

Sie musste nun allerdings auch darauf achten, auf niemanden draufzutreten. Mit einem großen Schritt trat sie hinüber in einen benachbarten Park. Die grasigen Hügel waren weich unter ihren Schuhen und Lina atmete tief durch.

Sie hatte ihre Stadt schon oft auf Luftaufnahmen von oben gesehen, aber in Person war es noch ein Stück beeindruckender. Eigentlich wunderschön, wie sich die Sonne in den Gewässern und Dachfenstern spiegelte! Eine tiefliegende Wolke kitzelte ihre Nase. Lina musste niesen und beobachtete fasziniert die Wirbel, die das in den Luftschichten erzeugte. Ihr wurde kalt.

Weit unter ihr erkannte sie Paris. Kichernd stellte sie sich breitbeinig über die Stadt, und piekste sie von oben auf den filigranen Eiffelturm. Sie musste sich beherrschen, ihn nicht zu pflücken und nach Rom zu versetzen. Durch die dünne Luft fühlte sich ihr Kopf sehr leicht an. Sie nahm einen großen Atemzug und richtete sich zu voller Größe auf. Unter ihr war Europa, über ihr der Sternenhimmel. Der Anblick war schwindelerregend, sie fühlte sich, als könne sie jeden Moment stolpern und vom Planeten fallen.

Sie betrachtete die blaue Kugel zu ihren Füßen. Jeder Mensch, mit dem sie je zu tun gehabt hatte, lebte auf dessen Oberfläche. Jede Erinnerung, die sie hatte, spielte dort. Wie verletzlich die Erde aussah!

Und dann sah Lina etwas am Horizont auftauchen. Erst dachte sie, es sei der Mond, aber beim zweiten Hinsehen erkannte sie, was es war: Ein Kopf. Ein menschlicher Kopf, ebensogroß wie ihrer, der sie mit geweiteten Augen ansah. “Whoa”, entfuhr es Lina. Sie hörte ihre eigene Stimme nicht, denn hier oben konnte nichts mehr den Schall transportieren. Sie winkte mit einer Hand und versuchte, auf die Person zuzugehen. Verdammt, wohin sollte sie treten, um möglichst wenig zu beschädigen? In Ozeane? Dass dabei nicht so viel kaputt ginge, war ja schon eine sehr menschenzentrierte Perspektive... Sie versuchte stattdessen, auf Gebirge zu treten. “The ground is lava, haha.” Sie sprang auf den Kaukasus und musterte die andere Person. Sie trug ihre Haare zu einem schwarzen Knäuel hochgesteckt und eine Brille mit großen Gläsern. Sie trug eine kantig aussehende Uniform, und ihr Mund war von einer transparenten Atemmaske bedeckt.

Die Person streckte die Hand aus und half ihr aufs tibetanische Hochland hinauf. Sie kramte in einer Tasche und holte eine zweite Atemmaske hervor. Lina nahm sie dankbar an und setzte sie auf. Die Maske war über einen Schlauch mit einer Gasflasche auf dem Rücken der anderen Person verbunden. Vorsichtig nahm Lina einen ersten Atemzug. Das schien zu funktionieren. Wer war diese Person?

Die Erde erinnerte Lina mittlerweile an einen Gymnastikball, auf dem sie zu zweit balancierten. Ein Satellit flog gegen ihr Schienbein. Um sie herum glitzerten die Lichter des Universums. Lina blinzelte in die Sonne.

Die andere Person tippte sie an der Schulter und wies schräg nach oben. Lina brauchte eine Weile, bis sie erkannte, was sie meinte: Der Mond schwebte über ihnen, eine graue, schwerelose Kugel. Zusammen trippelten sie rüber auf die Antarktis, sodass sie sich später nicht den Kopf daran stoßen würden. Lina war froh darüber, warme Schuhe zu tragen, und dennoch fröstelte sie. Auch ihre Körperwärme ging ihr langsam verloren.

Ein Gedanke, den Lina lange zurückgehalten hatte, drängte sich nun in den Vordergrund: Was, wenn dieses Wachstum nie mehr aufhören würde? Was, wenn sie immer weiterwachsen würden? Sie hob fragend die Arme und deutete auf sich und auf alles um sie herum. Die Person deutete auf ihren Mund und schüttelte den Kopf.

Die Erde war nun auf die Größe eines Apfels geschrumpft und klebte an Linas Schuh. Linas Gravitationsfeld war inzwischen so stark, dass eher die Erde von ihr angezogen wurde als umgekehrt. Aus einem Impuls heraus griff Lina nach der Erde und steckte sie sich in die Jackentasche.

Lina blickte erneut nervös in Richtung der Sonne. Würden sie bald hineinstürzen? Doch bald waren sie so groß, dass die Sonne und die Planeten langsam begannen, um sie zu kreisen. Einzelne Sterne schienen immer näher zu kommen und bald befanden sie sich inmitten einer Wolke aus kleinen leuchtenden Punkten, die Lina vorkam, wie ein Schwarm Glühwürmchen. Der Schwarm zog sich zusammen und formte ein langes leuchtendes Band. Lina tauchte ihren Finger in das Band und erwartete, dass es sich heiß anfühlen würde, aber es kitzelte nur ein wenig.

Die andere Person wies in eine Richtung des Bandes und bedeutete, ihr zu folgen. Mit Kraulzügen schwammen sie eine Weile zusammen, und wirbelten die Sterne durcheinander. Lina wagte nicht, darüber nachzudenken, welche Veränderungen sie dabei in der Galaxie auslösten. Schließlich kamen sie bei einer hell leuchtenden Scheibe an, wo mehrere der leuchtenden Spiralarme zusammenliefen. Im Mittelpunkt der Scheibe befand sich ein merkwürdiger, nach innen immer heller werdender Knoten. Im Mittelpunkt allerdings war er tiefschwarz, als würde er alles Licht aus seiner Umgebung aufsaugen.

Die Person griff in eine Umhängetasche und zog ein Gerät heraus, das Lina an einen Walkman erinnerte. Sie öffnete eine Klappe an der Seite und entfernte zwei Batterien, die sich darin befanden. Sie pflückte das schwarze Loch aus der Mitte der Galaxie, setzte es in das Gerät ein und drückte die Klappe fest zu. Dann holte sie tief Luft, blickte Lina in die Augen und drückte auf einen Knopf.

Alles ging plötzlich noch schneller als vorher. Die Milchstraße schrumpfte schnell auf die Größe eines Untertellers. Leuchtende Nebel zischten an Linas Gesicht vorbei. Weitere Galaxien zogen sich um sie herum zu faserigen Strukturen zusammen, die immer schneller kleiner wurden. Ein Rauschen und Flackern umgab sie. Wirbelnder, leuchtender Staub, der sich zusammenballte, bis sie schließlich nur noch Dunkelheit umgab.

Undurchdringbare Schwärze. Alle Lichtquellen waren verschwunden. Lina tastete in ihrer Tasche nach der Erde, aber sie fand nichts mehr darin. Sie griff im Dunkeln neben sich und fühlte die Kleidung der anderen Person. Diese legte ihr eine Hand auf den Arm. Wenigsten war sie nicht allein.

So schwebten sie einige Herzschläge lang schwerelos im Nichts.

Dann irgendwann verfestigte sich um sie herum wieder ein schwaches Leuchten. Das Leuchten ballte sich zu knubbeligen Strukturen zusammen, die immer noch weiterschrumpften. Lina wischte einen vorbeifliegenden Blob aus ihrem Gesicht, sah unter sich aber immer mehr davon auftauchen. Eine endlose Fläche dieser Blobs spannte sich in alle Richtungen. Zu zweit schwebten sie langsam darauf herab und kamen mit den Füßen auf. Lina stieß sich behutsam ab, und hüpfte über die Fläche. Von oben fielen immer wieder zitternde Blobs auf die Fläche, wurden abgestoßen und versetzten die Fläche an der Stelle in leise Vibration.

Die Blobs verdichteten sich zu langen Strängen, die von dicken Flocken bedeckt waren. Lina und die andere Person waren nun endgültig auf die Oberfläche gesunken. Die Bombardierung durch die Blobs von oben glich nun eher einem Regenschauer. Lina fiel etwas Großes auf, das sich über ihnen bewegte. Schaudernd erkannte sie, dass sie sich unter einem gigantisch großen Wesen befanden, das auf sechs langen Beinen stand. Es schien an einem Berg neben ihnen zu knabbern. Das Wesen schrumpfte weiter, bis sie darin eine Ameise erkannte. Sie war jetzt so groß wie ein Hund, wandte ihnen den Kopf zu und klapperte überrascht mit den Mundwerkzeugen.

Lina wuchs weiter. Mittlerweile konnte sie um sich herum einen Raum ausmachen. Sie wandte sich zu der anderen Person um und sah, dass sie ihre Atemmaske abgenommen hatte. Lina löste ihre eigene Maske von ihrem Kopf und atmete tief durch. Sie sah sich um. Sie befanden sich in einem sonnendurchfluteten Zimmer mit alten Holzmöbeln. Sie hatten nun eine Größe erreicht, bei der sie gerade so über die Tischkante blicken konnten. Lina fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt.

Sie versuchte, zu sprechen: “Äh, wow.” Die Person nickte grinsend. “Ja, das geht den meisten beim ersten Mal so. War deine erste Reise dieser Art, hm? Ich genieße das auch jedes Mal wieder aufs Neue.”

“Reise?”, murmelte Lina schwach. “Ich dachte, ich würde nie wieder auf die Erde zurückkommen!” Sie stutzte. “Moment mal. Die Erde!” Sie griff sich in die Tasche und wühlte darin herum. “Ich hatte sie hier doch irgendwo...” Als sie nichts fand, wandte sie sich wieder der anderen Person zu. “Ey, hast du ein verdammtes schwarzes Loch in deinen Walkman da gesteckt?”

Sie betrachtete neugierig das Gerät, das die Person nun erneut aus der Tasche zog. An der Seite waren Knöpfe angebracht, auf die jeweils ein Symbol gedruckt war. Ein LCD-Bildschirm zeigte einen wachsende Zahl an: 97%, 98%, 99%, ... In dem Moment, in dem die Anzeige auf 100% sprang, drückte die Person auf einen Knopf mit quadratischem Symbol.

Das Wachstum hörte auf. Lina ließ sich erschöpft auf den Boden fallen. “Was. Was war das!”, stammelte sie.

Die Person grinste schief. “Eigentlich wollte ich mir nur einen Überblick verschaffen. Ich hab wohl unterschätzt, wie schnell das Wachstum passiert. Und dann dachte ich, ach, warten wir ruhig einen Overflow ab. War doch sehenswert, nicht?”

“Einen Overflow?”

“Jo. Ist ein Glitch, der mir neulich klarwurde. Mein Gerät arbeitet mit Integern, also mit ganzen Zahlen, die nur einen bestimmten maximalen Skalierungswert abbilden können. Danach kippen die automatisch auf die andere Seite ins negative. Naja, und was dann passiert, hast du gerade erlebt. Ausprobiert habe ich das allerdings auch noch nie.”

“Warum bin ich überhaupt mitgewachsen?”

Die Person kratzte sich am Kopf. “Hm, das frage ich mich auch. Was hast du denn gemacht, als das alles begann?”

“Ich war in einem Labor mit Bleiwänden, um...”

“Oh ja, das hat dann die Schrumpfstrahlung von dir abgehalten. Witziger Zufall. Ich hab mich durch meine Kleidung davor geschützt.” Die Person klopfte auf ihre Schulter, was ein dumpfes metallische Pochen erzeugte.

Lina schüttelte verständnislos den Kopf. “Warte mal, Schrumpfstrahlung? Ich dachte, wir wären gewachsen?”

“Nope! Honey, I shrank the universe!” Die Person grinste. “Aber sag mal, ich muss jetzt dringend wieder nach Hause. Ich hab keine Ahnung, wo wir hier gelandet sind. Deine Aktion mit der Erde muss die Zielkoordinaten ein bisschen verschoben haben.” Sie stellte zwei Drehknöpfe an ihrem Gerät neu ein und drückte auf den Startknopf. “War schön dich kennenzulernen!”

Die Person begann wieder zu wachsen. Oder, nein, wie war das? Das Universum begann zu schrumpfen. Lina schaute ihr entgeistert nach, wie sie aus dem Fenster nach draußen kletterte, durch den Vorgarten stapfte und in den Wolken verschwand.